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Das Leben der "asozialen" Betty Voß © izrg

Betty wird am 25. Januar 1911 in Groß Lübs bei Magdeburg geboren. Not und Gewalt bestimmen das Leben in der kleinen Landarbeiterfamilie. Mit achtzehn ist sie auf der Landstraße, mit zwanzig landet sie in Kiel. Sie kommt unter bei "Mutter Therese", einem Fürsorgeheim für Mädchen, heiratet 1933, bringt einen Sohn und eine Tochter zur Welt. Der Mann trinkt und schlägt, sie muss betteln. Die Familie stört den nationalsozialistischen Aufbruch in Kiel, gerät in die Fänge staatlicher Fürsorge. Betty verteidigt ihre kleine Existenz, verliert aber am Ende den Kampf gegen Käthe Götz, eine unerbittliche Fürsorgerin. Schließlich wohnt sie wieder bei "Mutter Therese", die Kinder leben zunächst im katholischen Kinderheim, dann sind sie weg.

1937 wird Betty mit Beschluss des Amtsgerichts Kiel entmündigt, wegen "Geistesschwäche". Es folgt die Einweisung ins Landeskrankenhaus nach Schleswig. Nach drei Jahren Anstalt wird Betty geschieden und entlassen. Später arbeitet sie zusammen mit Zwangsarbeitern in der Rüstungsproduktion, missachtet das strenge Kontaktverbot. Sie "verlobt" sich wieder, diesmal mit Johann Driesten, einem Holländer. Im Dezember 1942 verhaftet man sie mit anderen nachts auf der Straße. Johann Driesten wird ins Konzentrationslager Neuengamme überstellt und dort am 3. April 1943 ermordet.

Bettys "Strafe" für ihr "asoziales Leben": das Frauen-KZ Ravensbrück. Sie trifft dort am 9. März 1943 ein. Ihre Häftlingsnummer 16.746 wird sie nie wieder vergessen. Sie trägt den schwarzen Winkel für "Asoziale". Selbst die "Politischen" blicken mit Verachtung auf die "Schwarzwinkler": Betty ist auch im KZ ganz unten. Sie arbeitet im Straßenbau, dann in der Näherei und schließlich im Krematorium. 133.000 Frauen werden 1939 bis 1945 nach Ravensbrück verbracht, 90.000 von ihnen sterben. Betty muß Leichen der Mithäftlinge holen, in den Ofen schieben, die kaum verkohlten Reste mit Sand in einen See transportieren. Nie wird sie richtig darüber sprechen können, bis zum Tod aber bleiben die furchtbaren Träume. Betty überlebt sogar die experimentelle Entfernung eines Bewegungsmuskels im Arm.

Nach ihrer Befreiung geht Betty wieder nach Kiel. 1951 heiratet sie "Fiete". Es ist der erste Mann, der sie nie schlägt. Dann kommt die eigene Befreiung: Käthe Götz, die Frau auf dem städtischen Gesundheitsamt, ist immer noch zuständig für sie. Das Amtsgericht beendet die Entmündigung am 2. März 1953. Es sei "zu dem Ergebnis gelangt ..., dass die Entmündigte nunmehr in der Lage ist, ihre Angelegenheiten sinn- und planvoll zu erledigen." Keine Demut bei Richtern, keine Entschuldigung der "Fürsorge". Als "Opfer des Nationalsozialismus" gilt Betty nicht, Entschädigungen für sie sind nicht vorgesehen.

Erst Jahrzehnte später bemüht sich Betty um ihre "Wiedergutmachung". 1987 stellt sie den Antrag auf eine einmalige Beihilfe von 5.000 DM. Sie scheint die Bedingungen zu erfüllen, die Nachweise lassen sich erbringen. Und das politische Klima ist günstig, im Deutschen Bundestag wird über "vergessene Gruppen" diskutiert, 42 Jahre nach Kriegsende am 7. März 1988 eine gesetzliche "Wiedergutmachung" für Homosexuelle, Sinti und Roma und "Asoziale" nachgeholt. Bettys Bescheid aber ergeht schon am 16. Februar 1988: Ihr Antrag ist abgelehnt. Denn: "Der Umgang mit Zwangsarbeitern, der wie hier offensichtlich persönliche Gründe hatte, stellt kein Zeugnis für eine politische Gegnerschaft zur NS-Diktatur aus. Der Umgang mit ausländischen Zwangsarbeitern war der gesamten deutschen Bevölkerung verboten."

Sie ist tief verletzt, fühlt sich in ihrem Misstrauen gegen deutsche Behörden bestärkt. Noch einmal lässt sie sich zum Einspruch überreden und erhält auf der Basis der neuen Regelung im Dezember 1988 den einmaligen Betrag. Und schließlich wird ihr Ende 1989 eine rückwirkend ab 1988 - und nicht ab 1945 - zu zahlende Zusatzrente von 830,22 DM zugestanden. Nach drei Jahren Bearbeitung, zahllosen Schreiben, Telefonaten und Unterschriften. Betty ist fast 79, sie lebt noch 17 Monate, eine kurze Phase letzter Würde.

Siehe auch:

Betty Voss

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