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Türkische Traditionen? © izrg

Türken in Schleswig-Holstein unterscheiden sich von der Mehrheitsbevölkerung in ihrer Sprache, Herkunft, Religion und Kultur. Und ihre Nachbarn erwarten von ihnen eine recht einseitige Integration: Sie sollen Deutsch beherrschen, wenig an ihre Herkunft erinnern und sich der deutschen Kultur öffnen. Die türkischen Familien, die dauerhaft hier leben, geraten also unter kulturellen Druck: Zum einen verteidigen sie in der Fremde ihre hergebrachten Werte, zum anderen müssen sie erkennen, dass ihre Kinder und Kindeskinder unter neuen Bedingungen aufwachsen. Ein Druck, der sich vor allem in den Familien äußert.

Nach einer Umfrage unter etwa 240 in Schleswig-Holstein lebenden türkischen Familien umfasst eine türkische Familie durchschnittlich 5,4 Personen. Sie setzt sich aus Vater, Mutter und 3 oder 4 Kindern zusammen. Die durchschnittliche Geburtenrate der türkischen Frauen liegt mit 2,4 Kindern höher als die der deutschen Frauen mit 1,3 Kindern. Zum größten Teil leben die türkischen Familien auch zusammen, es gibt weniger Trennungsfälle als in deutschen Familien.

Der traditionell enge familiäre Zusammenhalt innerhalb der türkischen Familien beruht auf einer langen Tradition mit festen Regeln und einer relativ klaren Ordnung. Häufig ist in türkischen Familien der Vater noch die Entscheidungsautorität und auch andere männliche Familienmitglieder genießen oft eine größere Freiheit als weibliche. Werte wie Ehrlichkeit, Achtung der Eltern, Großzügigkeit, Anstand, Respekt und Gastfreundschaft sind sehr wichtig. Außerdem gilt es auch innerhalb der Familie eine gewisse „Ehre“ zu erhalten und über diese zu wachen. Sie wird im traditionellen ländlichen Leben von den Männern geschützt: Einfluss und Bildung des Mannes lassen sich erwerben; die Ehre der Familie hängt aber auch daran, dass Frauen und Mädchen zurückhaltend leben. Auch das sollen die Männer der Familie gewährleisten, ansonsten verlieren sie ihre Ehre, geraten in Schande, werden nicht mehr ernst genommen.

Auch in der „Zweiten Generation“ bestimmen noch oft traditionelle Geschlechterrollen völlig selbstverständlich die Aufgabenverteilung, Pflichten und Freiheiten. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine türkische Besonderheit. Diese Kennzeichen findet man, kaum verändert, ebenfalls in vielen anderen Teilen Südeuropas. Sie werden als Familismus (oder Familialismus) bezeichnet; aber auch Ähnlichkeiten zum strengen Katholizismus sind nicht zu bestreiten.

In der türkischen Tradition verbringen die verschiedenen Geschlechter im Alltag kaum Freizeit miteinander. Männer bleiben kulturell unter sich, Frauen auch, die aber untereinander in starken „Netzwerken“ verbunden sind. Dennoch bildet die Familie den Kern der Identität. Dabei trifft das westeuropäische Vorurteil der türkischen Großfamilie selbst in der Türkei kaum noch zu: Die Wirklichkeit der Industriegesellschaft bewirkt, dass zumindest in den Städten die Kleinfamilie vorherrscht. Das gilt besonders für die Türken, die nach Deutschland kommen. Aber: Das traditionelle Ziel der Geborgenheit bleibt die Großfamilie.

Die türkische Minderheit bildet in den schleswig-holsteinischen Städten eine eigene Teilgesellschaft mit einer eigenen Interessenvertretung – der „Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein“ – Vereinen, Kirchengemeinden, Sport- und Musikclubs, Restaurants, Ärzten, Rechtsanwälten und Geschäften; die übrigen die deutsche Wirtschaft und das Steueraufkommen steigern und die die Deutschen auch immer häufiger nutzen. Damit werden Zusammengehörigkeit, eigene Werte und Traditionen innerhalb der Gesellschaft des Aufnahmelandes gesichert. Aber: Diese eigene „Einwanderergesellschaft“ in Kiel oder Flensburg unterscheidet sich nicht nur von der des Gastlandes, sondern inzwischen auch der der Türkei. Dort werden die in Deutschland lebenden Türken „Deutschländer“ genannt, weil sie Traditionen brechen und auch sonst anders erscheinen. „Türkeitürken“ distanzieren sich von den „Deutschtürken“; in Deutschland geborene Türken nennen sich selbst oft stolz so.

Aber trotzdem ist der Mythos von der Rückkehr in die Türkei lebendig. So sparen beispielsweise viele für eine mögliche Rückkehr in die „Heimat“ oder haben Besitz in Form von Immobilien in der Türkei. Bemerkenswert ist, dass dieser „Rückkehrmythos“ auch bei Türkischstämmigen verbreitet ist, die in Deutschland geboren sind. Kaum eine türkische Familie, in der nicht darüber geredet würde. Fast die Hälfte aller befragten Türken in Kiel antworten 1993 auf die Frage, ob sie „irgendwann einmal“ in die Türkei zurückgehen wollten, mit ja. Dennoch ist der Rückkehrwunsch bei der „Ersten Generation“ deutlich ausgeprägter als bei der „Zweiten Generation“. Der Rückkehrwunsch zeigt, dass sich viele türkisch-stämmige Schleswig-Holsteiner mit der Türkei verbundener fühlen und sich daher ein endgültiges, heimatliches Leben in Deutschland schwer vorstellen können. Den Zwiespalt zwischen zwei Welten bringt die 12-jährige G. auf den Punkt: „Also, ich würd‘ lieber in der Türkei bleiben. Ja, aber irgendwie will ich auch hier bleiben.“ Der Traum von der Rückkehr sichert die eigene Identität und bietet Sicherheit. Er liefert auch Selbstbewusstsein in einem Gastland, das nicht nur gastfreundlich ist.

Siehe auch:

Integration
Türkische "Gastarbeiter" in einer Flensburger Gaststätte 1981.
Warum Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein?
Das Logo der "Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein".
Eine Tanzgruppe des türkischen Kulturvereins in Flensburg 1986

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